Es sind erschütternde Zahlen, die heute an die Öffentlichkeit gelangt sind. Mindestens 3.677 Kinder und Jugendliche wurden in Deutschland in der Zeit zwischen 1946 bis 2014 Opfer sexuellen Missbrauchs durch 1.670 katholische Geistliche – und die Dunkelziffer liegt wohl höher. Das ist das Ergebnis einer wissenschaftlichen Studie, die die Deutsche Bischofskonferenz in Auftrag gegeben hat und deren Ergebnisse nun vorab teilweise bekannt wurden. Über 38.000 Akten wurden dazu in den 27 katholischen Bistümern gesichtet. Die Orden beteiligten sich nicht an der Untersuchung. Außerdem waren die Wissenschaftler auf die Angaben der Bistümer angewiesen; denn Originalakten konnten sie nicht einsehen. Zudem stellen sie fest, dass Akten „zu früheren Zeiten vernichtet oder manipuliert worden waren“. Die Studie fördert dennoch eine Reihe interessanter Erkenntnisse zu Tage. Angesichts der aktuellen Debatte um den Missbrauchsskandal in anderen Ländern scheinen vor allem zwei Aussagen der Experten wichtig: Weder Homosexualität noch Zölibat seien als solche Ursachen für Missbrauch. Sie könnten aber genauso wie die strikte Sexualmoral durchaus Risikofaktoren darstellen. Daher bestehe bei diesen Themen dringend Handlungsbedarf. Die Bischofskonferenz bezeichnete das Ausmaß des sexuellen Missbrauchs, das durch die Studie belegt wird, als „bedrückend und beschämend“. Dass in Bezug auf den Missbrauch dringender Handlungsbedarf besteht, sieht auch Papst Franziskus. Er hat deshalb für Februar 2019 alle Vorsitzenden der Bischofskonferenzen weltweit zu einem Krisengipfel in den Vatikan eingeladen.
Ergebnisse sind ernüchternd
Noch sind die Ergebnisse der über 350 Seiten umfassenden Studie nicht im Detail bekannt. Doch schon die Zusammenfassung zeigt, dass das Ergebnis für den Auftraggeber Bischofskonferenz ernüchternd ist. Zwar würdigen die Forscher die Präventionsarbeit, die die deutschen Bischöfe seit der ersten großen Welle des Missbrauchsskandals 2010 intensiviert haben. Allerdings sprechen sie von einem „Andauern des Missbrauchsgeschehens“ für den gesamten Untersuchungszeitraum, also bis 2014. Hier liegt ein signifikanter Unterschied zu dem Bericht einer unabhängigen Kommission im US-Bundesstaat Pennsylvania vor, der vor wenigen Wochen veröffentlicht wurde. Dort heißt es, dass sich in den vergangenen 15 Jahren in der katholischen Kirche der USA vieles verändert habe und in diesem Zeitraum nur noch wenige Fälle zu verzeichnen seien. Eine solche Formulierung findet sich in der Zusammenfassung der Studie für Deutschland nicht.
Dafür finden sich viele Belege für Annahmen, die bisher schon in Bezug auf den Missbrauch im Raum standen – dass die 1.670 beschuldigten Kleriker 4,4 Prozent aller Kleriker aus dem Untersuchungszeitraum (1946-2014) ausmachten, dass die überwiegende Mehrheit der Opfer männlich waren (62,8%), dass die Zahl der Versetzungen von beschuldigten Priester „signifikant“ höher war als die von nicht beschuldigten Priester. Bei einem Drittel der Beschuldigten wurde ein kirchenrechtliches Verfahren eingeleitet, bei 53 Prozent war das nicht der Fall.
Empfehlungen der Forscher
Die Forscher empfehlen den Bischöfen eine ganze Reihe von Maßnahmen. Dazu gehören eine Vereinheitlichung der Verfahren bei der Aufarbeitung und Prävention. Sie sprechen sich für unabhängige Anlaufstellen für Betroffene aus und eine „Änderung klerikaler Machtstrukturen“. Sie fordern zudem eine Veränderungen in der kirchlichen Sexualmoral und eine intensive Debatte darüber, wie zölibatäres Leben gelingen kann.
Gerade die zuletzt genannten Punkte machen deutlich, die Aufarbeitung des Missbrauchs in kirchlicher Obhut muss in eine neue Phase eintreten. Die Suche nach den konkreten Tätern ist wichtig und muss akribisch durchgeführt werden; den Opfern muss geholfen und die Täter bestraft werden. Doch das reicht nicht. Jetzt muss es endlich um die strukturellen und inhaltlichen Ursachen gehen, die solche Taten und ihre Vertuschung begünstigt haben. Und hier geht es ans Eingemachte. Mögen sich viele Kirchenobere bisher davor gedrückt haben, die Debatte über Klerikalismus und die Frage nach der Machtausübung in der katholischen Kirche lässt sich nun nicht mehr vermeiden. Das gilt auch für die längst überfällige ehrliche und umfassende Debatte über die Sexualmoral der katholischen Kirche. Das bedeutet nicht, alle Prinzipien der Kirche über Bord zu werfen. Die Forscher sagen beispielsweise in ihrer Studie nicht, dass der Zölibat abgeschafft werden muss. Sondern sie fordern eine „lebenslange professionelle Begleitung und Unterstützung“ der im Zölibat lebenden, um eine „intensive Auseinandersetzung mit der eigenen Emotionalität, Erotik und Sexualität“.
Krisengipfel im Vatikan
Die deutsche Studie ist nicht unabhängig und es ist ein großes Manko, dass die Forscher nicht mit den Originalakten arbeiten konnten. Aber sie ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur Ursachenforschung und Bestandsaufnahme beim Thema Missbrauch, der Aufarbeitung und der Prävention. Bei aller Kritik muss das anerkannt werden. Wie die Forscher feststellen, hat sich keine andere Institution bisher einem solchen Prozess gestellt. Aus ihrer Sicht könnten durch eine Vertiefung und Fortführung der vorliegenden Forschungen diese „Modellcharakter für die dringend notwendige und bisher vernachlässigte Erforschung des sexuellen Missbrauchs in anderen institutionellen Kontexten haben“.
USA, Australien, Irland, Chile, Deutschland und weitere Länder werden folgen. Es baut sich gerade ein enormer Druck auf, dem die Kirche nur mit massiven Reformen und konsequentem Handeln wird begegnen können. Dass die Gegner von Papst Franziskus das Thema nutzen, um den von ihnen ungeliebten Pontifex anzugreifen und zu schwächen, kommt noch hinzu und macht die Situation noch schwieriger. Das Kirchenoberhaupt lässt sich durch die Angriffe bisher nicht beirren. Er will im Februar mit den Vorsitzenden aller Bischofskonferenzen im Vatikan über die Missbrauchskrise sprechen. Bis dorthin wird er weitere konkrete Maßnahmen ausarbeiten müssen, um seine Konferenzvorsitzenden dann darauf einzuschwören. Die Menschen erwarten, dass die Kirche endlich die Ursachen behandelt, nicht nur die Symptome. Dass Franziskus dazu bereit ist, zeigen seine Worte in den vergangenen Wochen. Der heftige Gegenwind in der jüngsten Vergangenheit zeigt, dass nicht alle in der katholischen Kirche diesen Weg mitgehen wollen. Es stehen schwierige Monate bevor für die katholische Kirche – in Deutschland und weltweit.